Rückblick – Konzert von Neckarganga in Neu-Delhi // Throw-Back - Neckarganga Concert in New-Delhi

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Synchronizität. Während meiner Forschungstrips der ersten Hälfte 2023 reiste ich unter anderem in die indische Hauptstadt Neu-Delhi (ein paar Bilder finden sich in diesem Blogpost). Von meinen Freunden Raj und Flora erfuhr ich, dass genau an dem besagten Wochenende die deutsch-indische Band Neckarganga im India Habitat Centre Delhi spielen sollte: Ein Musikprojekt, das durch Klangräume Brücken zwischen südasiatischen Musiktraditionen und westlichen Musiktraditionen erschafft. Neckarganga: Neckar und Ganges. In Heidelberg wohne ich am Neckar und bin nicht nur einmal reingehüpft. Und auch im Ganges habe ich schon „gedippt“. Und so machten wir uns gemeinsam auf, um einen wunderbaren Abend der Musik zu erleben.


Ein paar Worte zu der Unterschiedlichkeit dieser Klangwelten und musikalischen Zugänge. Die europäische Musiktradition basiert vor allem auf Harmonien und der Stufenharmonik (grundlegend ist das Verhältnis von Tonika, Subdominante und Dominante). Diese europäische Harmonieversessenheit ist historisch in der frühen Musikpraxis im kirchlichen Kontext zu verorten. Dort dominierten zunächst einstimmige Melodien. Musik als soziale Praxis führte zum gemeinsamen Singen und so suchte man bald nach passenden parallel erklingenden Stimmen: Der Beginn der Mehrstimmigkeit. Mit der Zeit wurden weitere Stimmen hinzugenommen und allzu menschlich gab es den Drang, diese Klangwelten weiter auszuloten. Doch freilich mussten die Stimmen „harmonisch“ miteinander organisiert werden und mit den Hörgewohnheiten der Zeit zu vereinen sein. Aus Mehrstimmigkeit wurden immer größere harmonische Zusammenhänge. In den Klöstern, zentrale Stellen der Wissensproduktion, wurden diese harmonische Zusammenhänge erforscht und mit Aufkommen der Musiktranskriptionen in Regeln festgehalten und immer weiter ausdifferenziert. Das damalige Verständnis von Harmonie und Dissonanz ist mit unserem heutigen Ohr nicht mehr nachzuvollziehen. Beispielsweise gab es im 14. Jahrhundert den Diskurs um das Intervall des Tritonus: „Diabolus in Musica“. Das Intervall wurde als so dissonant wahrgenommen, dass es als „Teufelsintervall“ abgelehnt wurde. Heute – nach zahllosen Klangexperimenten durch viele (Musik-)Epochen hinweg – denken wir nicht mehr an den Teufel, wenn im Radio beispielsweise Purple Haze von Jimi Hendrix läuft (heute empfinden wir wohl Kleine Sekunde als Intervall der größten Spannung – ob unser Empfinden des Klangs heute vergleichbar mit dem damaligen Empfinden des Tritonus ist, werden wir nicht erfahren). Mit der Organisation von Klang in größeren Ensembles in europäischen Konzertsälen entwickelte langsam das (Stufen-)Harmonieverständnis, das uns „im Westen“ im kollektiven Ohr eint und auf den zwölf Tönen der chromatischen Tonleiter basiert. Dieser Zugang zur Musik hatte auch den Nachteil, dass man größtenteils alle Töne so im Voraus planen musste (Stichwort Noten und Partituren). Der Vorteil: Die Aufführungspraxis macht es möglich „unerhörte“ Klänge in die Welt zu bringen, beispielsweise Mahlers 8., „die Sinfonie der Tausend“, bei der eine Besetzung von über 1000 Menschen vorgesehen ist. Wenn man sich überlegt, was dies an zwischenmenschlichen Vereinbarungen voraussetzt – einfach unglaublich. Aber gleichzeitig gibt es in diesem geplanten Klangraum wenig Freiheit.

Die traditionellen südasiatischen Musikpraxen verfolgten über Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende, grundlegend einen anderen Ansatz. Ausschlaggebend ist hier das Verhältnis von Tönen und Melodien gegenüber einem steten Grundklang. Nach europäisch geprägten Theorieverständnis würde man dies „modale Musik“ nennen. Der Grundklang (meist Bordun) schwingt durch. Von dort aus tanzen die Klänge der Instrumente: Ob Bansuri, Sitar oder Tabla. Die nord- und südindischen Musiktraditionen sind deutlich älter als die Musik der europäischen „Klassik“. Melodische und rhythmische Strukturen erscheinen in Simplizität oder enormer Komplexität und werden nach gemeinsamen Regeln im Moment organisiert: Improvisation. Aus dem Gefühl und dem Kontext der Gegenwart heraus. Die entstehenden zyklischen Klangarchitekturen können riesig sein (Ich weiß noch, wie mein Vater in meiner Kindheit einmal völlig übermüdet aber erfüllt am frühen Morgen heimkam, nachdem die indischen Meister ihre Musik in der „Nacht der indischen Musik“ in Stuttgart bis 04:00 Uhr ausspielten // Mein Vater korrigierte nach Lektüre des Blogposts: "Falsch! Morgens um 7 kam dann Ravi Shankar frisch auf die Bühne, da wollte Mama unbedingt wieder nach Hause, um nach euch zu schauen. Opa und Oma waren Babysitter....Ich werd's nie vergessen!"). Wie ich zum Ton komme und seine Artikulation ist so wichtig wie der Ton selbst. Dabei zielt der Musiker darauf ab, durch die Klänge und die Energien emotionale Zustände zu evozieren, die in Resonanz zu seiner Innenwelt stehen. Natürlich gibt es hierzu eine Menge Wissen, das die längste Zeit oral tradiert wurde. So gibt es beispielsweise Ragas für gewisse Tageszeiten etc. Sieben Haupttöne können durch „Shrutis“, Halb- und Vierteltöne, ergänzt werden. Es gibt also in den indischen Musiktraditionen Töne und Klangoptionen, die mit der „europäischen“ chromatischen Tonleiter im strengen Sinne gar nicht zu erzeugt werden sollen. Und trotzdem sind sie zu erzeugen. Alle Tonhöhen sind ja (sofern es das Instrument zulässt) verfügbar.

Genau hier kommt Neckarganga ins musikalische Spiel. Sie bringen zu Gehör, wie sich diese Welten miteinander vereinen lassen und lassen Klangräume entstehen, in denen sich Menschen aus beiden Welten begegnen und im gemeinsamen Erleben verbinden. Solche transkulturelle Musikprojekte begannen im populären Sinn mit der sogenannten „Sitarexplosion“ in den 1960ern, bekannt vor allem durch Ravi Shankar (u.a. mit Yehudi Menuhin) und die Beatles. Viele Musiker setzten sich mit diesen südasiatischen Musikansätzen auseinander. Über Shakti (with John McLaughlin) oder John Coltranes „A Love Supreme“ hat sich bis heute viel getan. Heute gibt es tolle Ensembles wie Neckarganga oder auch Indrajala aus der Rhein-Neckarmetropolregion (Indrajala hat auch die Musik zu meinem Trailer zur Verfügung gestellt – vielen lieben Dank, lieber Ashok!). Eine tolle Möglichkeit sich mit dieser Musik auseinanderzusetzen ist die Orientalische Musikakademie Mannheim (OMM), in der Ashok aber auch Jonathan Sell von Neckarganga unterrichten.


In diesem Sinne eine ganz große Empfehlung für einen musikalischen „Dip“ im Neckarganga!




Bassist Jonathan zeigte mir seinen eigens umgebauten Bass. Die Kombination aus Bünden und Bundlosigkeit erlaubt Jonathan bei einigen Tönen den westlichen Attack (eine druckvolle Klangeigenschaft, die man nur durch Bundstäbchen erreichen kann), aber gleichzeitig auch mikrotonale Eskapaden, wie sie in der indischen Musik benötigt werden. Jonathan erzählte mir, wie er den Bass gemeinsam mit seinem Freund Jörg Teichert entwickelte, einem leider viel zu früh verstorbenen tollen Gitarristen, den ich auf einem Jazzworkshop in Ladenburg erleben durfte.



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Synchronicity. During my research trips in the first half of 2023, I traveled, among other places, to the Indian capital, New-Delhi (you can find some pictures in this blog post). It turned out that exactly that weekend, the German-Indian band Neckarganga was scheduled to perform at the India Habitat Centre Delhi: a music project that builds bridges between South Asian music traditions and Western music traditions through soundspaces. Neckarganga: Neckar and Ganges. I live by the Neckar in Heidelberg and have taken several dips into it. And yes, I've also "dipped" into the Ganges. So, we set out together to dip into a wonderful evening of music.



A few words about the differences of these soundscapes and musical approaches. The European musical tradition is primarily based on harmonies and harmonic progressions (fundamental is the relationship between tonic, subdominant, and dominant). This European obsession with harmony is historically rooted in early musical practices within the ecclesiastical context. Initially, monophonic melodies dominated. As music evolved as a social practice, leading to communal singing, the search began for suitable parallel voices: the beginning of polyphony. Over time, additional voices were added. Human nature led to the deeper exploration of these soundscapes. However, the voices had to be "harmonically" organized and reconciled with the listening habits of the time. Polyphony evolved into larger harmonic structures. In monasteries, central hubs of knowledge production, these harmonic relationships were explored. With the advent of music transcriptions they were systematically documented and further differentiated. The understanding of harmony and dissonance from that time is no longer comprehensible to our contemporary ears. For example, in the 14th century, there was a discourse about the tritone interval: "Diabolus in Musica". The interval was perceived as so dissonant that it was rejected as the "Devil's Interval". Today, after countless sound experiments across many musical epochs, we no longer associate the Devil when, for instance, Jimi Hendrix's "Purple Haze" is being played on broadcast (today, we likely perceive the minor second as an interval of the greatest tension – whether our perception today is comparable to the perception of the tritone back then - Unfortunately, we will never know). With the organization of sound in larger ensembles in European concert halls, the understanding of harmony gradually developed. This led to the collective ear of the West based on the twelve tones of the chromatic scale. This approach to music also had the disadvantage that, for the most part, all tones had to be planned in advance (keywords: sheets and scores). The advantage: Performance practice makes it possible to bring "unheard" sounds into the world, such as Mahler's 8th Symphony, "Symphony of a Thousand," which envisions a cast of over 1000 people. When you consider what this requires in terms of interpersonal agreements – simply incredible. But at the same time, there is little freedom in this pre-planned soundscape. 

The traditional South Asian musical practices have, for centuries, if not millennia, fundamentally pursued a different approach. Central to this is the relationship between tones and melodies in relation to a constant fundamental tone. According to a European-influenced theoretical understanding, this would be called "modal music." The fundamental tone (usually a drone) resonates. From there, the sounds of instruments dance in this space: whether it's the Bansuri, Sitar, or Tabla. The North and South Indian musical traditions are significantly older than the music of European "classical" tradition. Melodic and rhythmic structures appear in simplicity or tremendous complexity and are organized in the moment according to shared rules: improvisation. Emerging cyclic sound architectures can be vast (I remember how, in my childhood, my father came home completely tired but in such a great mood early in the morning after the Indian masters played their music until 4:00 AM in the "Night of Indian Music" in Stuttgart // My father corrected me after reading this blogpost: "Wrong! Ravi Shankar came fresh onto the stage at 7 in the morning. Mom really wanted to go home to check on you guys. Grandpa and Grandma were babysitting...I'll never forget that!"). How I approach the tone and its articulation is as important as the tone choice itself. The musician aims to evoke emotional states in resonance with their inner world through sounds and energies. Naturally, there is a wealth of knowledge about this, which has been transmitted orally for the longest time. For example, there are Ragas for certain times of the day, etc. Seven main tones can be supplemented by "Shrutis," half and quarter tones. In the Indian musical traditions, there are tones and sound options that are not intended to be produced with the "European" chromatic scale in the strict sense. And yet, all these tones exist. All pitch levels are available (as long as the instrument allows).

Exactly here, Neckarganga kicks in. They present how these worlds can come together and create soundspaces where people from both worlds meet and connect through shared experiences. Such transcultural music projects began, in a popular sense, with the "Sitar explosion" in the 1960s, notably through Ravi Shankar (i.a. with Yehudi Menuhin) and the Beatles. Many musicians engaged with these South Asian musical approaches. Much has evolved since then, including Shakti (with John McLaughlin) and John Coltrane's "A Love Supreme". Today, there are fantastic ensembles like Neckarganga and also Indrajala from the Rhine-Neckar metropolitan region (Indrajala also provided the music for my trailer – many thanks, dear Ashok!). A great way to engage with this music is through the Oriental Music Academy Mannheim (OMM), where both Ashok and Jonathan Sell from Neckarganga teach.





In this sense, a wholehearted recommendation: Take a deep breath and take a "dip" into Neckarganga


Bassist Jonathan shows me his custom-modified bass. The combination of frets and fretlessness allows Jonathan to achieve Western attack in some tones (a forceful sound characteristic achievable only through frets) while simultaneously exploring microtonal escapades, as required in Indian music. Jonathan developed the bass along with his friend Jörg Teichert — a fantastic guitarist who, unfortunately, passed away too early, and whom I had the pleasure of experiencing at a jazz workshop in Ladenburg.


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