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Das Buch ist nun seit knapp einem halben Jahr veröffentlicht, und die Open-Access-Ausgabe hat in der vergangenen Woche die Marke von 5000 Klicks überschritten. Ich freue mich sehr über das große Interesse und die durchweg positiven Rückmeldungen. Besonders häufig wird die historisch-kritische Aufarbeitung in der rund 200-seitigen Rekonstruktion sowie die Verbindung der damaligen Ereignisse mit der Gegenwart im abschließenden Teil der Arbeit hervorgehoben. (Dazu hielt ich 2023 einen Vortrag im Forschungszentrum des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, Nürnberg (siehe Blogeintrag Von Kerala nach Deutschland: Vergangenheit und Gegenwart), und veröffentlichte 2024 einen Artikel in einem englischsprachigen Sammelband Care and Compassion in Capitalism erschienen bei Emeralds: "From Kerala to Germany: Imported Care Labour – Developments and Paradigmatic Changes (1960–Present)").
In Rahmen meiner letzten Vorträge kam immer wieder die Frage: Wie schreibt man eine solche Rekonstruktion? Gute Frage. Ein oftmals unterschätzter Aspekt davon, lässt sich systematisch angehen: die Organisation von Informationen.
In Archive gehen, endlos Sekundärliteratur wälzen, Interviews führen, Feldforschung betreiben und über Jahre hinweg inkrementell – also Schritt für Schritt – an einem umfangreichen Textkorpus arbeiten: Auf den ersten Blick mag man es kaum glauben, aber das Verfassen einer solchen Arbeit hat viele Parallelen zur Softwareentwicklung. Wie lässt sich in einem derart komplexen und lebendigen Informationsgeflecht der Überblick bewahren – und dabei kontinuierlich und zielgerichtet am Ergebnis arbeiten? Und hier kann ich vielleicht einen kleine Handreiche für Menschen geben, die auch an einem solchen Projekt arbeiten (wollen): Die Anwendung agilen Projektmanagements für eine Rekonstruktion nach historischer Methodik.
Das lässt sich entweder digital umsetzen (es gibt einige Apps für agiles Projektmanagement) – oder, wie in meinem Fall, ganz analog mit einem Poster. Dafür braucht es nur ein großes Plakat, Post-its und ein paar Stifte.
Vorab: Es handelt sich um einen interaktiven Prozess, bei dem sich auch das Medium des Projektablaufs – also das Poster – stetig weiterentwickelt. In diesem Sinne: Mut zur Kreativität!
1. Organisation entlang der Zeitlinie
Unterteilt den Prozess in grobe Zeitabschnitte. Zäsuren können dem Forschungsgegenstand inhärente oder externe politische Ereignisse sein. Bringt auf dem poster eine Zeitline an.
2. Erstellung von Untersegmenten – Überschriften
Nach dem ersten Sichten der Akten erfolgt ein Coding (analog zum Grounded-Theory-Ansatz). Definiert und betitelt Sinnabschnitte, in denen wichtige Ereignisse zwischen verschiedenen Akteuren ausgehandelt werden, mit kurzen, prägnanten Überschriften. Hängt diese Titel auf Post-its und platziert sie unterhalb der entsprechenden Zeitabschnitte.
3. Der Schreib-Backlog: Das Herz des Posters
Legt einen Schreib-Backlog an: Hier wird das Thema zum aktuellen Beabeitungsfokus definiert. Klebt beim Arbeiten den passenden Post-it in diesen Bereich. Geschrieben wird nur zu dem Thema, das gegenwärtig im Schreib-Backlog klebt. Schafft nun hier Raum für Brainstorming – ergänzt darunter jeweils ein DIN-A4-Blatt, auf dem ihr die wichtigsten Akteure, Netzwerke und Schlüsselbegriffe notiert. Sobald neues Datenmaterial eingeht, aktualisiert ihr dieses „allwissende“ Blatt und ordnet es gegebenenfalls neu an. Überprüft kontinuierlich die Relevanz aller Einträge vor dem Hintergrund der aktuellen Perspektive. Arbeitet blockweise, d. h. für mehrere Tage, bestenfalls wochenweise konzentriert an einzelnen Post-its, um Komplexität zu reduzieren (es hängt immer nur ein Post-it im Scheibbacklog!). Die aktuell nicht gebrauchten allwissenden Zettel zu den anderen Post-its schön abordnen, damit ihr sie parat habt, wenn ihr wieder den entsprechenden Post-It von oben wieder in den Schreibbacklog holt. Falls etwas zu den anderen Themenfeldern über den Weg läuft, schreib es auf den entsprechenden DinA4 Zettel, damit ihr es auf den Schirm habt.
4. Kurzzusammenfassungen unter den Überschriften
Fasst die Vorkommnisse jedes Untersegments in 2–3 Sätzen prägnant zusammen. Prüft dabei regelmäßig, ob die gewählte Überschrift noch zutrifft – bei Bedarf schreibt ihr schnell eine neue Post-it-Überschrift. Diese Zusammenfassungen erleichtern später das Finden passender Kapitelüberschriften.
5. Verknüpfungen herstellen
Verbindet die Post-its der Untersegmente, z. B. über gemeinsame Akteure, Behörden oder Verweise auf Sekundärliteratur. Analoge Methode: Spannt Fäden zwischen den Zetteln und ergänzt kleine Post-its mit Erläuterungen.
6. Weitere interaktive Felder auf dem Poster
Ergänzt Bereiche wie To-do-Listen, Leselisten zum Abhaken, Archivlisten mit Kalender für Besuchstermine oder ein Feld „Klärungsbedarf“. Dort könnt ihr jederzeit neue Post-its einkleben, sobald Ideen oder Fragen auftauchen.
Wenn man das Poster entsprechend pflegt, wächst die Arbeit – und das Bild im Kopf – gemeinsam mit dem Poster zu etwas Großem heran. Und das Beste daran: Es macht Spaß!
In diesem Sinne: Viel Freude mit der Methode!
Leider sind inzwischen alle meine Poster entsorgt worden (oben ist ein Bild meines ersten Versuchs vo 2019 zu sehen), darum habe ich hier eine stilisierte ChatGpt4 Demonstration wie so etwas aussehen kann.
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ENG
Method Guide: Agile Project Management and Historical Reconstructions?
The book has now been published for almost six months, and the Open Access edition is about to surpass the 5,000-click mark. I am truly grateful for the positive response and the wonderful feedback. Especially appreciated is the meticulous reconstruction—nearly 200 pages—conducted through a historical-critical method, and the way it links past events to the present in the final section (In 2023, I presented this approach at the Research Center of the Federal Office for Migration and Refugees in Nuremberg—see the blog entry From Kerala to Germany: Past and Present—and in 2024, I contributed an article to the English-language anthology Care and Compassion in Capitalism, published by Emerald: From Kerala to Germany: Imported Care Labour – Developments and Paradigmatic Changes (1960–Present)).
During my recent talks, one question kept coming up: How does one write such a monograph?
Good question. A crucial aspect, often underestimated, can be tackled in a systematic way: the organization of information.
Visiting archives, wading through mountains of secondary literature, conducting interviews, doing field research, and slowly—over the course of years—building up a large body of text piece by piece: At first glance, it may seem surprising, but writing such a work has much in common with software development. So how is it possible to stay oriented in such a dense and dynamic web of information and make meaningful progress?
Here, I’d like to offer a small practical guide for anyone working on—or planning to work on—such a project: The application of agile project management to a historical reconstruction.
You can implement this digitally (there are several useful apps for agile project management), or—as in my case—entirely analog, using a poster. All you need is a large sheet of paper, some Post-its, and a few pens.
One thing upfront: this is an interactive process, where even the project’s “carrier medium”—i.e. the poster—is in constant flux. So: embrace creativity!
Working Method
1. Organizing Along a Timeline
Divide the process into rough chronological sections. Turning points may stem from the internal logic of your research topic or external political events. Create a timeline on your poster.
2. Creating Subsegments – Crafting Headings
Once you’ve reviewed your initial archival material, start coding (analogous to the Grounded Theory approach). Define and name meaning clusters where key events or interactions between actors occur, using concise and focused headings. Write these on Post-its and place them under the corresponding time sections.
3. The Writing Backlog: The Heart of the Poster
Create a writing backlog: for each topic you're working on, move the relevant Post-it to this area. This is your space for brainstorming: Attach an A4 sheet underneath where you jot down central actors, networks, and keywords. When new data arrives, update your “all-knowing” sheet accordingly—and rearrange as needed. Regularly assess the relevance of each item in light of your current perspective. Work in focused blocks—dedicate several days at a time to one segment. This sharpens your concentration and helps reduce complexity. Organize the currently unused “all-knowing” sheets in a visible way so you can easily access them when returning to a related topic in the backlog. If you come across anything related to the other subsegments, please write it down on the corresponding A4 sheet so it stays on your radar.
4. Summarizing Under the Headings
Summarize the events of each subsegment in 2–3 crisp sentences. Regularly check if the assigned heading still fits—if not, simply write a new Post-it. These summaries will later help you generate chapter titles.
5. Creating Connections
Link the Post-its from different subsegments—for example, based on recurring actors, institutions, or references to secondary literature.
In analog setups, you can “old-school” it: use threads to connect related notes and add small explanatory Post-its.
6. Adding Interactive Poster Fields
Include extra sections like to-do lists, checkable reading lists, archive visit calendars, or a “Clarification Needed” field. This way, you can quickly pin up new Post-its whenever a question mark or a lightbulb pops up.
When you care for the poster and update it regularly, your work—and your mental image of it—grows alongside it into something substantial.
And the best part? It's actually fun. In that spirit: enjoy the method!
Unfortunately, all of my posters have since been discarded (above you can see an image of my first attempt), so I’ve created a stylized demonstration with ChatGPT-4 to show what such a setup might look like.
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